Hanging-Off im Alltag
Wie ein Rennfahrer in Kurven neben dem Motorrad zu hängen gilt auf öffentlichen Straßen als verpönt. Der MOTORRAD COACH 2015 erklärt, in welchen Fahrsituationen der Fahrstil „Hanging-off“ auch auf öffentlicher Straße Sinn ergibt – und warum.
Kurvenfahren ist das Salz in der Suppe, darin sind sich wohl alle Motorradfahrer einig. Uneinigkeit herrscht dagegen oft, wenn es um die Frage geht, wie man am besten um eine Kurve kommt. Wir dirigieren das Motorrad tatsächlich in erster Linie mit dem Lenker. Über ihn wird die Kurvenfahrt eingeleitet, aber damit ist es meist nicht getan.
Die Verlagerung des Körperschwerpunktes in Bezug zum Motorrad, also die Einleitung der körpereigenen Kräfte in das Chassis spielen je nach Maschine, Tempo und Kurvenradius eine wichtige Rolle. Hierbei unterscheidet man drei Fahrstile:
Das Legen, das Drücken und das Hanging-off.
Legen
Beim Legen (engl.: lean with) liegen die Hochachse des Motorrades und die des menschlichen Körpers stets in einer Linie.
Dieser Fahrstil ist ein eher passiver Fahrstil, weil sich der Fahrer auf dem Motorrad so gut wie nicht bewegt. Nachteil: Vergleichsweise träge, wenn man schnell reagieren muss.
Drücken
Dieser Fahrstil kommt ursprünglich aus dem Motocross, da diese Maschinen in der Regel mit einem heraushängenden kurveninneren Bein und zum Teil mit einem auf dem Untergrund gleitenden Fuß um die Kurve bewegt werden. Dabei wird das Motorrad viel stärker abgewinkelt als die Schräglage, die der Fahrer einnimmt.
Dieser Fahrstil wird im angelsächsischen Sprachraum auch als „lean out“ (hinauslehnen) bezeichnet. Die abgeschwächte Form mit beiden Füßen auf den Fußrasten kommt auch auf Asphalt zum Einsatz, etwa bei abrupten, starken Richtungswechseln, umso leichter, je aufrechter die Sitzposition und desto breiter der Lenker. Nachteil: die starke Schräglage der Maschine.
Hanging-off
Das Wort Hanging-off wird leider häufig missverstanden (vermutlich geprägt aus dem Rennsport), weil es meistens nur mit dem „Knieschleifen“ gleichgesetzt wird. Der angelsächsische Begriff „lean in“ (hineinlehnen) trifft es besser. Das heißt, dass, sobald sich der Fahrer etwas stärker in die Kurve neigt als sein Motorrad, sei es auch nur etwas mit dem Oberkörper, Hanging-off schon beginnt.
Erst im Extremfall ist dann das Schleifen des Knies ein zusätzlicher, allerdings nicht notwendiger Bestandteil von Hanging-off. Von daher nutzen schon viele Motorradfahrer den Fahrstil Hanging-off, sind sich aber dessen nicht bewusst. Doch nur was ich bewusst einsetze, kann ich im Ernstfall auch umsetzen und, vor allem, passend zur jeweiligen Situation einsetzen.
Im Zeitraffer
Im Straßenrennsport konnte man über die letzten Jahrzehnte beobachten, wie der Fahrstil sich veränderte. Zuerst kerzengerade im Fahrstil Legen (z. B. Mike Hailwood), dann der erste Hanging-off-Stil (z. B. Kenny Roberts), der damals häufig als „Bammelbein-Stil“ bezeichnet wurde. Dann kam Valentino Rossi irgendwann auf die Idee, fast in jeder Bremszone sein kurveninneres Bein heraushängen zu lassen.
Warum er das macht, konnte er auch nicht genau erklären, jedoch fand er viele Nachahmer. Heute schleifen Rennfahrer nicht nur mit den Knien, sondern auch noch mit den Ellenbogen (z. B. Marc Marquez). Viele Rennfahrer (auch Valentino Rossi!) versuchen nun diesen Fahrstil zu kopieren, weil sie keine andere Erklärung dafür haben, warum Marc Marquez so schnell ist.
Die Gründe
Im Laufe der letzten dreißig Jahre wurden nicht nur die Motoren stärker, sondern auch die Motorradreifen – und hier insbesondere die Hinterradreifen – immer breiter. Dadurch musste man in Kurven schräger fahren, obwohl die Kurvengeschwindigkeit die gleiche blieb. Und nun kommt Hanging-off ins Spiel, was gerade bei breit bereiften Motorrädern gegenüber den anderen beiden Fahrstilen Vorteile bietet. Jeder, der schon länger Motorrad fährt, weiß, dass man extreme Fahrmanöver nur vollziehen kann, wenn mit vollem Körpereinsatz gefahren wird. Und dazu zählen „in Kurven hineinbremsen“, „in Kurven bremsen“ oder auch „gleichzeitiges Ausweichen bei größtmöglicher Verzögerung“. All diese Fahrmanöver sind notwendig, wenn man sich einmal mit der Geschwindigkeit bzw. dem Kurvenradius verschätzt hat – oder, wenn beispielsweise ein Pkw die Vorfahrt nimmt und man schnellstmöglich Geschwindigkeit abbauen und/oder das Hindernis umfahren muss.
Diese Fahrmanöver lernt man natürlich nicht in der Fahrschule, da Anfänger hierbei schnell überfordert sein könnten. Im realen Straßenverkehr sollte man sie aber beherrschen, da es immer nur eine Frage der Zeit ist, wann eine solche Situation eintritt, die gemeistert werden muss. Wie viel Körpereinsatz erforderlich ist, richtet sich auch nach dem Motorrad, welches man gerade fährt. Eine BMW R 1200 GS zum Beispiel hat nur einen 110er Vorder- und 150er-Hinterradreifen, und dies bei einem relativ hohen Schwerpunkt. Dass solche Motorräder sich dann fast ausschließlich durch einen gezielten Lenkimpuls fahren lassen, ist nicht verwunderlich. Aber dies ist nicht der Regelfall, weshalb viele Motorräder Körpereinsatz verlangen, sobald Richtungswechsel etwas schneller gehen müssen. Bei normaler Fahrt wird man diesen Fahrstil auch nicht anwenden müssen, da reicht dann das Legen. Aber eben häufig nicht in brenzligen Situationen. Welche Vorteile kann denn Hanging-off nun fahrdynamisch bieten?
Die Vorteile
Das Lenkmoment, welches wir normalerweise am Kurveneingang oder in Kurven am kurveninneren Lenkerende durch Drücken (das Moment ist kurveneindrehend) kompensieren müssen, setzt sich aus sieben (!) verschiedenen Lenkmomenten zusammen. Und genau hier hat Hanging-off von allen Parametern – auch den geometrischen Parametern am Motorrad, wie etwa dem Lenkkopfwinkel – den größten Einfluss auf das Lenkmoment. Denn es bewirkt ein kurvenausdrehendes Lenkmoment, wodurch sich das Gesamt-Lenkmoment (die Summe der sieben Lenkmomente ist kurveneindrehend) merklich reduziert. Der Grund dafür ist stets die geringere Motorradschräglage, die durch das Hanging-off gegenüber dem Legen oder Drücken erzielt wird. Geringere Schräglagen von 4 bis 5° sind dabei relativ einfach zu realisieren.
Alternativ könnte bei gleicher Schräglage eine höhere Geschwindigkeit gefahren werden. Nun wissen wir ja, dass sich ein Motorrad beim Bremsen in Schräglage aufrichten möchte, wenn wir es nicht selbst durch ein entsprechendes Gegenlenkmoment in Schräglage unten halten. Da eine Bremskraft am Vorderradreifen in Schräglage ein kurveneindrehendes Lenkmoment (Bremslenkmoment) erzeugt, schlägt der Lenker stärker in die Kurve ein, wodurch ein engerer Kurvenradius gefahren wird. Bei gleicher Kurvengeschwindigkeit, aber auf einem engeren Kurvenradius, entsteht jedoch eine höhere Fliehkraft im Gesamtmassenschwerpunkt, die dann das Motorrad schlagartig aufrichtet. Allerdings nur, wenn wir es aus eigener Kraft nicht schaffen, dieses Bremslenkmoment am Lenker zu kompensieren und die Kurvenlinie beizubehalten.
Das bedeutet, dass wir auch schon mal – in Abhängigkeit von Schräglage und Bremskraft – ein Lenkmoment von 100 Newtonmeter oder mehr (zum Vergleich: Pkw-Radmuttern werden mit ca. 120 Newtonmeter angezogen) kurzfristig am Lenker ausgleichen müssen. Und auch hier kommt uns der Fahrstil Hanging-off zugute. „Bedingt durch die geringere Schräglage wandert der Reifenaufstandspunkt hier nämlich auch weniger aus der Fahrzeugachse heraus als bei den übrigen beiden Fahrstilen. Bei einem 120 mm breiten Vorderradreifen (Annahme: Reifen ist kreisrund) ergibt sich bei verschiedenen Schräglagen (Legen: 30,8°; Drücken: 35,5°; Hanging-off: 26,1°) beim Hanging-off ein Hebelarm zur Fahrzeughochachse von 26,4 mm. Im Fahrstil Legen sind es bereits 30,7 mm, im Fahrstil Drücken sogar 34,9 mm. Dieser Hebelarm ist insofern von Wichtigkeit, als er beim Bremsen in Schräglage ein Moment um die Lenkachse bewirkt, das sogenannte Aufstellmoment. Dieses Aufstellmoment berechnet sich durch die am Vorderrad erzeugte Bremskraft, multipliziert mit eben diesem Hebelarm. Wie hoch die Bremskraft auch ausfällt: Je geringer der Hebelarm ist, desto geringer ist auch das Aufstellmoment. Daher ist das Aufstellmoment beim Fahrstil Legen um 16,3 % und beim Drücken um 32,2 % größer als beim Hanging-off.
Andersherum beträgt das Aufstellmoment beim Legen nur 88,0 %, beim Hanging-off sogar nur 75,6 % von dem, welches beim Fahrstil Drücken wirkt. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil! Ein weiterer Nutzen des Hanging-off-Stils ist der, dass der Fahrer seinen Oberkörper näher an das kurveninnere Lenkerende bringt als bei den anderen Fahrstilen. Damit hat er eine Position, in der er dem Aufstellmoment am Lenkerende körperlich besser entgegenwirken kann. Zudem wirkt auch seine kurveninnere Haltung dem Aufstellmoment entgegen! Des Weiteren bildet sich in der Regel beim Fahrstil Hanging-off in der geringeren Schräglage ein größerer Latsch (Kontaktfläche zwischen Reifen und Fahrbahn) aus, weshalb eine geringere Flächenpressung und somit ein größeres Kraftschlusspotenzial möglich ist. Auch dieser Vorteil sollte in brenzligen Situationen nicht verkannt werden.
Hanging-off bietet auch im Bezug auf die Sicherheit einige Vorteile
Die Gegenüberstellung der Fahrstile hat veranschaulicht, dass der Fahrstil Hanging-off auch in Bezug auf die Sicherheit einige Vorteile bietet. Er ermöglicht bei identischen Parametern die geringste Motorrad-Schräglage, erzeugt beim Bremsen die geringsten Aufstellmomente und bietet unter Umständen die größten Sicherheitsreserven bezüglich des Grips. (1) Was noch hinzukommt ist, dass der Fahrstil Hanging-off mehr Bodenfreiheit bietet.
Für Chopper-Fahrer zwar ein ungewöhnlicher Fahrstil, aber höchst empfehlenswert, wenn das Fahrzeug aufsetzt und die Kurve einmal enger werden sollte. Eine Kurve, die mit aufsetzenden Fußrasten nur 40 Stundenkilometer verträgt, kann im Fotobeispiel mit der Victory Gunner unter Gewichtsverlagerung mit Tempo 45 durchfahren werden. Und fünf Stundenkilometer können im Ernstfall über Wohl und Wehe entscheiden.
Dies alles sind Gründe, die Hanging-off in einem anderen Licht erscheinen lassen. Es geht hier nicht darum, schnell zu sein, sondern kritische Situationen sicher meistern zu können. Die praktische Anwendung des Kurvenstils Hanging-off, sprich die Kniffe der sinnvoll angewendeten Gewichtsverlagerung, lernt man am besten unter fachkundiger Anleitung bei einem speziellen Kurventraining.
Quelle: www.motorradonline.de