Duell der Supersportler
Mit mehr als 200 PS und weniger als 200 Kilogramm kann es schon passieren, dass einem das Vorderrad gen Himmel schnappt. Der aktuelle Anlass für dieses Aufgebot an Dynamik: Die neue Yamaha YZF-R1 tritt an zu einem ersten Vergleichstest gegen die etablierte, für dieses Jahr gründlich überarbeitete BMW S 1000 RR.
Die neue Yamaha YZF-R1 wurde nicht nur von Yamaha-Fans lange erwartet, sondern auch von BMW. Seit der letzten Überarbeitung der Kawasaki ZX-10R im Jahr 2011 ist die R1 das erste Supersportmotorrad eines großen japanischen Herstellers, noch dazu ein von Grund auf neu entwickeltes. Das sorgte für Hochspannung bei BMW und gab Anlass, die BMW S 1000 RR gründlich zu überarbeiten, um sie gestärkt ins Rennen gegen die neue Rivalin zu schicken.
Obgleich die Überarbeitung nicht nur den Motor betrifft, genießt er doch besondere Aufmerksamkeit bei Motorradfans, besitzt am meisten Prestigepotenzial. Zumal Yamaha die Leistung der Yamaha YZF-R1 mit 200 PS angibt, während die BMW-Angabe bei der BMW S 1000 RR mit 199 PS unter dieser Grenze bleibt. Stecken dahinter Understatement und Diplomatie, oder symbolisiert der kleine Unterschied ein größeres Ereignis, eine Änderung der Machtverhältnisse? Um dies zu klären, mussten die Konkurrentinnen vor den Testfahrten auf dem MOTORRAD-Prüfstand nach dem bewährten, Vergleichbarkeit schaffenden Prozedere ihre Leistung offenbaren.
Diese Motorräder repräsentieren die Krone der Schöpfung
Die Yamaha YZF-R1 musste als Erste ran, übertraf mit 202 PS die Werksangabe um zwei, das angekündigte maximale Drehmoment mit 115 Nm gar um drei Einheiten. Es lag noch dazu um 2700/min früher an als angegeben. Der Grund für diese Abweichung ist in dem breiten Drehmomentplateau zu finden, das der R1-Vierzylinder zwischen 8500 und 12.200/min aufbaut; hier liegt das Drehmoment beständig über 110 Nm, und abhängig von kleinen Motor- und Messtoleranzen liegt das Maximum eben mal bei dieser, mal bei jener Drehzahl. Die Tester waren beeindruckt. Dann bekam die BMW S 1000 R Gelegenheit, nachzulegen. Sie tat es. Und wie. Nicht nur in der Spitzenleistung, die auf exorbitante 208 PS emporschnellte. Und nicht nur in der Drehmomentspitze, die 119 Nm erreichte, sondern auch im unteren Drehzahlbereich zwischen 4500 und 8000/min. Hier legte die BMW bis zu 10 PS und 20 Nm zwischen sich und die Yamaha.
Weiter ging es auf der Straße. Weil der Winter in Deutschland seine Herrschaft zäh verteidigte, testete MOTORRAD in Spanien, im Hinterland der Costa Dorada, wo die hügelige Topografie im Zusammenspiel mit EU-Fördergeldern wunderschöne Straßen entstehen ließ. Immer kurvig, mal schmal mit engen Radien, mal breit in weiten Schwüngen gezogen, meist tadellos asphaltiert. Wo nicht, sind sie von selektiven Bodenwellen durchzogen. Ein Paradies, auch für Supersportler. Im öffentlichen Verkehr dürfen sie nicht ihre ganze Macht entfalten, doch ihre Souveränität und Präzision, die hohe Qualität ihrer Federelemente und anderer Komponenten begeistern stets aufs Neue. Für den Autor repräsentieren die Yamaha YZF-R1 und die BMW S 1000 RR noch immer die Krone der Schöpfung. Selbst hochwertige Crossover-Modelle wie die Ducati Multistrada profitieren von der Technik, die zuerst in Sportlern unter extremen Anforderungen, Geschwindigkeiten und Belastungen erprobt wurde.
Beide Motorräder erlauben schaltfaules Fahren
Die Yamaha YZF-R1 ist ganz und gar durchdrungen vom Streben nach Fahrdynamik. Mehr noch als die BMW S 1000 RR, die ihren Fahrern ab und zu ein Quäntchen mehr Alltagstauglichkeit gönnt. Das fiel schon nach kurzer Strecke und dem ersten Motorradtausch anhand der Ergonomie der beiden auf. Auf der BMW sitzt der Fahrer tiefer, mit vergleichsweise engem Kniewinkel, aber recht hoch montierten Lenkerhälften. Auf der Yamaha müssen – angenehm für langbeinige Fahrer – die Knie wegen der hohen Sitzbank und der etwas tiefer montierten Fußrasten längst nicht so stark angewinkelt werden. Dafür sind die Lenkerhälften tief platziert, gerade einmal 2,5 Zentimeter höher als die Sitzfläche – die Angabe im Top-Test (Ausgabe 8/2015) rückte sie irrtümlich einen Zentimeter weiter nach oben. So oder so, dieses Arrangement bedingt eine tief gebeugte Haltung, und die wirkt als eine ständige Aufforderung zum engagierten (Schnell-)Fahren. Man kommt ihr gerne nach, wann immer es geht, der Tag jung ist und man sich selbst noch nicht alt fühlt. Doch im erzwungenen Bummelverkehr oder in der aufkeimenden Erschöpfung nach einem langen Fahrtag zieht es einen eher auf die BMW.
Weitere Erkenntnisse zum Charakter der beiden Motorräder: Beide erlauben schaltfaules Fahren, die BMW S 1000 RR allerdings zwei Gänge höher. Auf der Yamaha YZF-R1 bekommt der Fahrer wegen des geringen Drehmoments in der Mitte und der relativ langen Gesamtübersetzung den Eindruck, besser in den unteren drei Gängen zu bleiben. Ein Gefühl, das die Durchzugswerte bestätigen. Sie werden zwar mit voll aufgerissenem Gas im höchsten Gang ermittelt und repräsentieren die ins Extrem getriebene Forderung nach starkem Antritt aus dem Drehzahlkeller. Doch obwohl in der Praxis nur selten stur im letzten Gang beschleunigt wird, die Unterschiede also nicht ganz so stark zutage treten, geben sie die Verhältnisse richtig wieder. Der dezent pulsierende V4-Klang des Crossplane-Reihenmotors verleitet zusätzlich, ihn mit höheren Drehzahlen zu fahren als einen normalen Reihenmotor.
BMW-Entwickler haben bewusst auf Ausgleichswelle verzichtet
Weniger signifikant als die Durchzugswerte sind die Unterschiede in der Beschleunigung. Im Bereich von 200 PS bringt ein geringes Plus an Spitzenleistung kaum mehr Vortrieb: Bis 200 km/h gewinnt die BMW S 1000 RR ganze drei Zehntelsekunden, und die muss ein versierter Fahrer trotz Rennstartassistent und Wheeliekontrolle auch erst einmal mit der üblichen Kupplungs- und Gasgriffzauberei realisieren. Weit wichtiger für Alltag und Rennstrecke als die schiere Beschleunigung ist das Ansprechverhalten des Motors. Der Vergleich beider Maschinen in verschiedenen Modi zeigt, dass bei der BMW die direkte oder, wenn man so will, härtere von zwei Varianten immer noch sanfter anspricht als die sanfteste von drei Varianten bei der Yamaha YZF-R1, die zudem mit einer Reduzierung des Drehmoments einhergeht.
Wer also die volle Zugkraft der Yamaha YZF-R1 nutzen will, muss das Gas mit viel Gefühl anzupfen, wenn er nicht trotz tadelloser Mechanik des Antriebsstrangs einen harten Lastwechsel provozieren möchte. Das stört vor allem auf unbekannten Strecken, wo man öfter mit dem Gas spielen muss. Dafür verwöhnt der neue R1-Motor mit fast perfekter Laufkultur. Der Vierzylinder mit Crossplane-Kurbelwelle zündet zwar in ungleichmäßigen Abständen, vibriert aber weniger und weicher als der BMW-Vierzylinder mit konventioneller Zündfolge. Die Ausgleichswelle, welche die Yamaha-Ingenieure wegen der besonderen Motorkonfiguration für unverzichtbar halten, leistet sehr gute Dienste. Die BMW-Entwickler haben bewusst auf eine Ausgleichswelle verzichtet, um interne Leistungsverluste zu minimieren. Angesichts dessen ist die Laufruhe der BMW S 1000 RR wiederum beachtlich.
Was den Klang betrifft, so hält sich die Yamaha YZF-R1 zu sehr zurück. Dank der ungewöhnlichen Zündfolge tönt sie sowieso tiefer als die BMW S 1000 RR, und ihr Rhythmus dürfte sich gerne lauter hören lassen. Doch der Yamaha-Auspuff dämpft stärker als die neue BMW-Anlage, die ohne Vorschalldämpfer auskommt. Diese besitzt ein heiseres Timbre und entfaltet ein aufreizendes Gebrüll bei hohen Drehzahlen. Beim Schließen des Gasgriffs wird die Benzinzufuhr auch nicht sofort unterbrochen; einige winzige, absichtlich eingespritzte Sprittröpfchen sorgen für sattes Auspuffbrabbeln, das einen Hauch von Formel 1 in der Bremszone verbreitet. Störend laut wird das nie. Aber die BMW klingt, als wäre sie ein aggressives Biest, die Yamaha täuscht dagegen den zufriedenen, satten Brummbären vor.
Was sich wie Benzinverschwendung anhört, macht sich beim Verbrauch so gut wie nicht bemerkbar. Auf gleicher Strecke mit gleichem Tempo im ständigen Wechsel von denselben Testern gefahren, brauchte die BMW S 1000 RR auf 100 Kilometer 0,4 Liter weniger als die Yamaha YZF-R1. Weil sie zudem etwas mehr Tankvolumen besitzt, schafft sie mit einer Tankfüllung auch fast 30 Kilometer mehr als ihre Konkurrentin. In diesen Ergebnissen zeigt sich, wie ausgereift die S 1000 RR mittlerweile ist, denn nur durch emsige Detailarbeit kann ein Motor zugleich mehr Spitzenleistung und eine fülligere Drehmomentkurve erhalten, und das alles bei tendenziell sogar geringerem Benzinverbrauch. Der hohe Reifegrad der BMW-Technik offenbart sich auch in Details wie dem Schaltassistenten, der längst nicht mehr nur ein Rennstreckengimmick ist. Hoch wie herunter gefällt der Schaltassistent Pro mit weichen Gangwechseln. Hat man doch einmal beim Herunterschalten das Getriebe gequält, waren die Drosselklappen noch ein wenig offen. Wer konsequent das Gas schließt und nicht kuppelt, braucht einfach nur die Gänge durchzusteppen, den Rest erledigt die Elektronik. Bis hin zu akkurat dosierten Gasstößen beim Zurückschalten in den ersten Gang, um das Schleppmoment des Motors zu moderieren.
Bei der Yamaha YZF-R1 arbeitet der Schaltassistent nur beim Hochschalten. Seine Funktion ist in zwei Stufen einstellbar, doch auch in der Stufe mit den längeren Schaltzeiten gelingen im Alltagsverkehr nicht immer geschmeidige Gangwechsel. Bei voller Beschleunigung auf der Autobahn oder Rennstrecke arbeitet das System jedoch perfekt.
Verhältnis vergleichbar mit dem von Honda und Yamaha in der MotoGP-WM
In Sachen Motor und Antrieb ist das Verhältnis zwischen der BMW S 1000 RR und der Yamaha YZF-R1 vergleichbar mit dem von Honda und Yamaha in der MotoGP-WM. Ein paar PS weniger haben die YZR-M1 aber selten davon abgehalten, Rennen zu gewinnen. Selbst in den Duellen gegen das übermächtig scheinende Duo Marc Márquez und Honda RC 213 V war der Tempoüberschuss, den die Yamahas in der ersten Phase einer Kurvenfahrt ermöglichen, schon oft zu beobachten. Und die R1, die viele ihrer Anlagen auf die M1 zurückführt, fühlt sich so an, als könnte sie dies auch – ein kaum glaubliches Tempo durch die Kurven nehmen. Der Grund dafür liegt in ihrer sensationell sicheren Vorderradführung, ihrer Präzision in Lenkverhalten und Rückmeldung.
Die BMW S 1000 RR ist komfortabler gefedert und gedämpft, was ihren Fahrern auf der Landstraße zugutekommt. Einige Proberunden auf der Rennstrecke von Alcarràs zeigten, dass die komfortablere Abstimmung ihrer Federelemente dort gewöhnungsbedürftig ist. Die Federbewegungen vorn gaben den Testern zunächst das Gefühl, die Linie nicht exakt zu treffen, und die Hinterhand geriet beim harten Beschleunigen ins Pumpen. Mit der Zeit erwiesen sich Sorgen bezüglich der Lenkpräzision als unbegründet, und die Hinterradfederung benahm sich mit reduzierter Druckdämpfung sogar besser als mit einer straffen Einstellung, doch auf der Rennstrecke machte es einem die Yamaha YZF-R1 mit ihrer straffen Abstimmung leichter. Sie über eine Folge von Wellen in eine schnelle Kurve laufen zu lassen, zu spüren, wie sich der Vorderreifen mit dem Asphalt verzahnt, die Federung arbeitet, und zu sehen, wie genau man die Linie trifft, ist schon ein exquisites Erlebnis. Den dafür geforderten Körpereinsatz leistet man gerne.
BMW S 1000 RR werksseitig mit vier vorkonfigurierten Modi
Die BMW-Testmaschine war mit einer semiaktiven Dämpfung ausgestattet, deren einzelne Funktionen sich abweichend von der werksseitigen Einstellung in je 15 Stufen variieren lassen. Der Einstellbereich könnte in manchen Funktionen noch weiter in Richtung straff reichen, zumindest in der Zugstufe hinten. Dies ist aber nur als vorläufige Testaussage zu werten, weil die Rennstrecke für den Vergleichstest zwischen der BMW S 1000 RR und der Yamaha YZF-R1 nicht im Vordergrund stand. Ein großer Rennstreckenvergleich aller aktuellen Supersportler Mitte Mai wird genaueren Aufschluss geben.
Bei Yamaha ist die semiaktive Dämpfung der YZF-R1 M vorbehalten, doch diese Edel-R1 ist in Deutschland bereits ausverkauft. Abseits der Rennstrecke ließ die BMW S 1000 RR keinen Bedarf an individuellen Fahrwerkseinstellungen aufkommen – auf der Rennstrecke übrigens auch nicht bei jedem Tester. Die Abstimmungen, die werksseitig mit den vier vorkonfigurierten Modi Rain, Sport, Race und Slick einhergehen, passten bestens für Fahrer von verschiedener Statur. Für die Landstraße waren die meisten mit dem Modus Sport hochzufrieden. Wer es etwas spektakulärer liebt, kann auch den Modus Race aktivieren.
ABS und Kombibremssystem der Yamaha YZF-R1 ständig aktiviert
Auf der Yamaha YZF-R1 kristallisierte sich während der Testfahrten eine deutliche Tendenz zu sanfterer Druckdämpfung heraus. An der Gabel war sie 23 von 29 Klicks offen, hinten in der Highspeed-Einstellung 5,75 von insgesamt sechs Umdrehungen. Auch die Vorspannung von Gabel und Federbein wurde gegenüber der Serieneinstellung leicht reduziert. Die Module der YRC (Yamaha Ride Control) standen für die Motorsteuerung (PWR) meist auf zwei, die neunstufig einstellbare Traktionskontrolle (TCS) für die Rennstrecke auf zwei, für die Landstraße auf drei. Stufe vier schadet hier auch nicht. Was die übrigen Module betrifft, ist man mit den Werkseinstellungen gut bedient. Oder kurz gesagt: Der B-Modus mit dem auf Stufe drei gesetzten TCS reicht für einen weiten Bereich vom sportlichen Landstraßen- bis zum ernst gemeinten Rennstreckenfahren. Beim ABS setzen beide Hersteller auf unterschiedliche Systeme und Philosophien. So sind das ABS und das Kombibremssystem der Yamaha YZF-R1 ständig aktiviert. Ob in verschiedenen Modi hinten unterschiedlich stark mitgebremst wird, ist Sache des Systems. Der Fahrer erfährt darüber nichts.
Bei der BMW S 1000 RR nehmen die Hinterradbremsfunktion und die ABS-Regelung am Hinterrad immer weiter ab, je mehr sie auf Rennstreckeneinsatz getrimmt wird. Das ABS lässt sich sogar gänzlich abschalten. Bei gleicher mittlerer Verzögerung ließ sich die S 1000 besser dosieren; ihre Bremse veränderte sich unter hoher Belastung auch weniger als die R1-Anlage. Abgesehen von den unterschiedlichen Charakteren der beiden Motorräder, bestätigen solche und andere Feinheiten den Reifegrad der BMW. Man merkt, dass sie schon in dritter Generation modellgepflegt wurde. Rechnet man ihre Fortschritte auf die Yamaha YZF-R1 hoch, die am Anfang ihrer Entwicklung steht, so darf man sich auf eine spannende Zukunft freuen. Und hoffen, dass das stetige Optimieren aller Supersportler noch lange weitergehen wird.
Motorrad-Testergebnisse
1. BMW S 1000 RR
Ihr Motor und ihre Alltagstauglichkeit sind die großen Stärken der BMW S 1000 RR. Was nicht heißt, dass sie auf der Rennstrecke nichts gegen die Yamaha zu bestellen hätte. Doch den Übergang zum radikalen Schnellfahren schafft man auf ihr nicht so leicht wie auf der Yamaha YZF-R1.
2. Yamaha YZF-R1
Drehmomentschwäche und ruppiges Ansprechen bringen die Yamaha YZF-R1 in Rückstand, die souveräne Nichtachtung alltäglicher Belange wie Komfort oder Kosten tut ein Übriges, die R1 auf Platz zwei zu bringen. Trotzdem oder gerade deshalb: ein faszinierendes
Quelle: www.motorradonline.de