Schräg, schräger, am schrägsten

Wer fährt wirklich wie schräg?

Wo liegen die Grenzen?

Und welche Unterschiede bestehen bei Serienbikes?

Die Kollegen von "motorradonline.de" scheuchten vier Motorräder aus unterschiedlichen Gattungen um eine Kreisbahn:

Supermoto, Naked Bike, Cruiser und Superbike


Geht es um Superlative, kursieren oft die wildesten Zahlen: das schnellste, stärkste, teuerste Bike, und so weiter. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Schräglage. Akteuren aus den verschiedensten Motorsport-Disziplinen werden mitunter abenteuerliche Neigungswinkel angedichtet. Manchmal gilt das auch für jene des besten Kumpels oder gar die eigenen. Doch wer fährt wirklich wie schräg? Wo liegen die Grenzen? Und welche Unterschiede bestehen bei Serienbikes? Um das zu klären, scheuchten die Kollegen der Plattform "motorradonline.de" vier Maschinen aus unterschiedlichen Gattungen – SupermotoNaked BikeCruiser und Superbike – um eine Kreisbahn; haben gemessen, geprüft und sich zusätzlich bei Experten umgehört. Außerdem prügelten sie einen waschechten Qualifying-Gummi aus der Superbike-WM um die Radien und checkten den Unterschied zu einem sportlichen Serienreifen. Willkommen in der faszinierenden Welt der Schräglage!


Wozu Schräglage?

Am Anfang steht die Frage nach dem "Warum": Wozu benötigt ein Einspurfahrzeug bei Kurvenfahrten überhaupt Schräglage? Antworten liefert die Physik. Weil bei dieser Übung Fliehkräfte (Zentrifugalkräfte) entstehen, die diese Fahrzeuge ohne Schräglage einfach nach außen umkippen lassen würden. In Schräglage wirkt die nach innen verlagerte Gewichtskraft von Pilot und Maschine den Fliehkräften entgegen. Die Höhe von Kraft und Gegenkraft hängt vom Kurvenradius und der Geschwindigkeit ab: Je kleiner der Radius und/oder je schneller die Fuhre, desto größere Schräglagen sind nötig. Im Grunde verdanken wir den Kurvenspaß also der Physik – sie lebe hoch!


Wie viel Schräglage geht?

Bei sportlichen Bikes mit reichlich Schräglagenfreiheit hängt das maßgeblich von der Haftreibung ab.

Haftreibung?

Darunter versteht man jene Kraft, die ein Gleiten sich berührender Körper verhindert. In unserem Fall setzt sich die Haftreibung aus Reifen und Asphalt zusammen. Der kraftradelnde Volksmund spricht hierbei lieber von Grip, was deutlich greifbarer klingt. Die Höhe der Haftreibung zwischen Reifen und Asphalt wird mit dem Reibungskoeffizient µ (sprich: mü) bezeichnet. Bei ordentlichen Reifen auf guten Landstraßen entspricht µ = 1.

Bei diesem Wert begrenzt die Physik die theoretische Schräglage auf 45 Grad. Wer schräger fährt, Gas gibt oder bremst, rutscht garantiert ins Off. Dennoch sind auch größere Schräglagen möglich. Warum? Weil sich sehr griffige Reifen mit sehr rauem Asphalt stark verzahnen, was den Grip erhöht. Besonders auf Rennstrecken lassen sich damit atemberaubende Schräglagen realisieren. MotoGP-Piloten und auch die Jungs aus der Superbike-WM schaffen bis zu satten 62 Grad Fahrzeugschräglage. Bei extremem Hanging-off liegt die effektive Schräglage sogar noch etwas höher. Wie bitte? Verschiedene Schräglagen?


Schräglage ist nicht gleich Schräglage

Zur Erklärung ist ein klein wenig Theorie nötig. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen drei Schräglagen. Nennen wir die erste effektive Schräglage. Sie ist ein theoretischer Wert und errechnet sich aus der Kurvengeschwindigkeit und dem Kurvenradius. Sie gilt unumstößlich für jedes Bike und jeden Piloten. Die effektive Schräglage bezieht sich allerdings auf unendlich schmale Reifen (entspricht einer dünnen Linie).

Nun zur Praxis.

 

Dazu stellen wir uns eine senkrecht stehende Maschine von hinten vor. Vom Aufstandspunkt des Hinterreifens ziehen wir mittig eine senkrechte Linie durch das Bike. Diese Linie führt durch den Reifenaufstandspunkt und den Schwerpunkt. Grundsätzlich hängt die Schräglage auch immer mit dem Schwerpunkt zusammen.

 

Stellen wir das Bike nun auf den Seitenständer. Im Gegensatz zu unserem unendlich schmalen Reifen verlagert sich der Reifenaufstandspunkt etwas zum Rand. Klar soweit? Gut. Je schräger wir die Maschine stellen, desto weiter wandert dieser Punkt nach außen zur Reifenschulter. Ziehen wir die Linie nun vom neuen Aufstandspunkt durch den Schwerpunkt, verläuft sie nicht mehr mittig durch das Bike, sondern bildet einen Winkel. Um diesen Winkel fährt unser Bike schräger als ein Fahrzeug mit unendlich schmalen Reifen. Die Skizzen (siehe Reifenbreite und Schwerpunktlage) veranschaulichen den Unterschied zwischen diesen beiden Linien. Diese Schräglage ist die Nummer zwei, wir nennen sie bezeichnenderweise Fahrzeugschräglage. Auf sie beziehen wir uns auch bei den Winkelangaben auf den Fotos.


MotoGP-Weltmeister Jorge Lorenzo zeigt uns den Unterschied zwischen der Fahrzeugschräglage und der dritten Schräglage (siehe Bild). Mit seinem extremen Hanging-off liegt der Mallorquiner wesentlich schräger in der Kurve als sein Untersatz. Unter der obligatorischen Berücksichtigung der Schwerpunktlagen ergibt sich die Nummer drei, die kombinierte Schräglage. Bei einer maximalen Fahrzeugschräglage von 62 Grad liegt diese bei den wildesten Burschen bei rund 66 Grad – absoluter Wahnsinn!


Was schaffen Serienbikes?

Nun steigen wir selbst in den Ring. Unser Fuhrpark besteht aus der brandneuen Husqvarna 701, einer Ducati Diavel, der BMW S 1000 R und der Honda Fireblade. Sämtliche Bikes jagen wir in drei verschiedenen Fahrstilen um die Kreisbahn: aufrecht sitzend, drückend und mit Hanging-off. Da jeder Stil einen anderen Gesamtschwerpunkt von Fahrer und Maschine bildet, ändern sich auch die Schräglagenwinkel – jene vom reinen Fahrzeug ebenso wie die kombinierte.

 

 

Das Data-Recording ermittelt dabei die jeweiligen Kurvenspeeds. Welcher Stil liefert das höchste Tempo?


Schräglage mit der Husqvarna 701

Beginnen wir mit der Husqvarna 701. Als Erstes brennen wir aufrecht sitzend um die Kreisbahn (Durchmesser: 55 Meter) und tasten uns an die Reifenhaftgrenze heran. Da bei diesem Stil der Pilot und das Bike eine Linie mit der Längsachse bilden und der Schwerpunkt wieder genau durch diese Linie läuft, sind Fahrzeug und kombinierte Schräglage identisch: 47 Grad. Als Tempo spuckt das Messgerät 57 km/h aus.

Nun drücken wir die Husqvarna 701 im typischen Sumo-Stil in Schräglage. Das Resultat: 57 Grad Fahrzeugschräglage und 62 km/h Speed – für Serienreifen sehr beachtliche Werte. Leichte Slides und aufsetzende Anbauteile (Fußraste, Schalthebel und Seitenständer) markieren das Limit. Die kombinierte Schräglage aus Fahrzeug und Pilot beträgt 51 Grad. Die Differenz von sechs Grad ist die höchste des gesamten Vergleichs und resultiert aus dem geringen Gewicht des Fahrzeugs, seiner schmalen Bauart und der für diesen Fahrstil ausgelegten Ergonomie: hoher und breiter Lenker, schmaler Sitz, tiefe Rasten. Bei „normalen“ Maschinen fällt der Unterschied deutlich geringer aus.

Beim Hanging-off liegen die Geschwindigkeit und die kombinierte Schräglage exakt auf gleichem Niveau wie beim Drücken: 62 km/h, 51 Grad. Da der Pilot in diesem Fall weit unterhalb der Husqvarna 701 kauert, fällt die reine Fahrzeugschräglage mit 46 Grad folgerichtig geringer aus. Fürs reine Kurventempo ist es also egal, ob der Pilot unterhalb des Bikes hängt oder selbiges in die Ecken drückt. Dennoch bringt Drücken bei Sumos Vorteile. Der Pilot kann das Bike besser kontrollieren und es beispielsweise bei Slides leichter abfangen. Die Fotoshow zeigt die unterschiedlichen Fahrstile.


Sonderfall Ducati Diavel, Cruiser & Co.

Weiter oben haben wir gelernt, dass bei sportlichen Bikes der Grip die Schräglage begrenzt. Bei Maschinen mit geringer Bodenfreiheit bestimmen dagegen aufsetzende Teile das Limit. Ein gutes Beispiel hierfür bildet die Ducati Diavel. Bei rund 41 Grad schleifen die Fußrasten über den Asphalt. Da dieser Wert bei allen drei Fahrstilen identisch ist, können wir die Kurventempi wunderbar vergleichen. Aufrecht: 50 km/h, Drücken: 47 km/h, Hanging-off: 53 km/h. Warum unterschiedliche Geschwindigkeiten? Das liegt am (Gesamt-) Schwerpunkt. Beim Hanging-off sitzt er am tiefsten, wodurch günstigere Hebel wirken, die höhere Tempi ermöglichen. Nun wissen wir auch, warum Profi-Racer in Kurven so tief neben ihrem Bike hängen: alles eine Frage größtmöglicher Kurvenspeeds.

 

Diese physikalische Begebenheit ermöglicht MotoGP-Piloten auch, am Kurvenausgang stärker zu beschleunigen als auf der Geraden. Auf ebener Strecke entspricht die maximale Beschleunigung ungefähr der Erdanziehungskraft (= 9,81 m/s² = 1 g). Insider sprechen bei einer Schräglage von 45 Grad von Beschleunigungen bis zu 1,2 g. Ein unfassbarer Wert! Wir erinnern uns: 45 Grad auf der Landstraße sind nur im Rollmodus, also ohne Beschleunigen oder Bremsen, möglich. Die Mördergummis der MotoGP, griffiger Racing-Asphalt und massive Cojones der Piloten sind Voraussetzung für solche Manöver. Zum Vergleich: Mit seriennahen Bikes und Hypersportreifen auf gutem Rennstreckenbelag sind bei 40 Grad Schräglage Beschleunigungen von zirka einem g möglich.


Schräglage mit der Honda Fireblade

Nach den beiden Besonderheiten Supermoto und Cruiser schwingen wir uns mit der Fireblade auf einen gängigeren Maschinentyp. Die Honda bietet zwar reichlich Bodenfreiheit (Angstnippel der Fußrasten entfernen!), kann aber logischerweise nicht mit den erwähnten Vorteilen einer Supermoto aufwarten: zweckmäßige Ergonomie, geringes Gewicht, schmale Bauform. Welche Ergebnisse liefert die Honda Fireblade? Zunächst ziehen wir mit den Serienreifen – Bridgestone S20 in Sonderspezifikation „G“ – um die Kreisbahn. Wie erwartet, liefert sie mit Hanging-off ihren höchsten Kurvenspeed: 61 km/h. Die Fahrzeugschräglage beträgt 48 Grad, die kombinierte deren 51. Um die Werte der einzelnen Maschinen zu vergleichen, empfehlen wir die Übersichtstabelle (siehe Schräglagen und Geschwindigkeiten).


Welchen Unterschied machen Qualifier?

Nun wird es spannend. Die Qualifier aus der Superbike-WM sind vorgeheizt, los geht’s. Einfach unglaublich, wie die Gummis kleben und welches Feedback sie liefern! Immer tiefer tauchen Pilot und Maschine in Schräglage, die Pirellis gieren geradezu danach. Erst als sich die Blade sehr leicht anfühlt – ein untrügliches Zeichen des nahenden Limits –, lassen wir es gut sein. Das Mess-Equipment bescheinigt 65 km/h und eine Schräglage von 53 Grad (Fahrzeug). Die kombinierte Schräglage liegt mit 55 Grad zwei Grad darüber. Eindrucksvolle Werte, doch bei idealen Bedingungen ginge noch mehr. Einstellige Asphalttemperaturen, durchschnittlicher Grip des Belags und die leicht nach außen hängende Kreisbahn vereitelten absolute Bestmarken. Doch vor allem kühlen die Spezialgummis beim schlichten Kreiseln schnell ab. Die Reifen brauchen den Druck, der beim scharfen Bremsen und heftigen Beschleunigen entsteht, um im idealen Temperaturfenster zu bleiben.

„Mit Qualifiern fahren die Piloten nicht schräger als mit Rennreifen“, erklärt ein Pirelli-Techniker. „Ihr Vorteil ist, dass sie beim Bremsen und Beschleunigen in Schräglage mehr Reserven bieten. Das bringt zirka eine Sekunde pro Runde.“ Dazu muss man wissen, dass diese Spezialreifen nach einer, maximal zwei Runden ihren Geist aufgeben und in die Tonne wandern.


Schräglage mit der BMW S 1000 R

Als Letzte zirkelt die BMW S 1000 R um die Bahn. Mit ihren sportlichen Pellen (Pirelli Diablo Rosso Corsa) zieht sie sich mit 59 km/h im Hanging-off-Stil und 47 respektive 50 Grad Schräglage blendend aus der Affäre. Allerdings setzten hierbei die Angstnippel und der Schalthebel auf. Dennoch bleibt sie den Spezialisten Husqvarna 701 und Honda Fireblade dicht auf den Fersen. Ein sportliches Naked lässt sich bei der Kurvensause also nicht ohne Weiteres abhängen.

 


Doch wie wird der Normalo zum Schräglagen-König?

Indem er fleißig übt und sich langsam ans Limit tastet. Das gelingt am besten unter professioneller Aufsicht bei einem speziellen Kurventraining, wie es beispielsweise das MOTORRAD action team anbietet oder das Fahrsicherheitszentrum Leipzig/Halle 

Nur wer souverän durch die Ecken ballert, spürt die Magie der Schräglage. Und den Wahnsinn.


Quelle: motorradonline.de